Mit der Praxis der lectio divina zu beginnen, erfordert vor allem die Bereitschaft und auch ein wenig Mut, sich auf Neues einzulassen. Denn diese spirituelle Übung unterscheidet sich deutlich von den Gewohnheiten in unserem Alltag. Die fünf wichtigsten Besonderheiten seien hier kurz aufgeführt.
Lesen mit einer anderen Intension
Das meiste, das wir lesen, dient entweder der Information bzw. Bildung oder der Unterhaltung. Doch die lectio divina hat einen anderen Anspruch: Sie ist darauf angelegt, Gott zu begegnen. Diese Intension gründet in der Vorstellung einer wirklich lebendigen und liebenden Beziehung zwischen Gott und Mensch. Immer wieder wird im Mönchtum betont, dass eine solche Annäherung an Gott das alles bestimmende Ziel des monastischen Lebens ist. Letztlich sind wir alle aufgerufen, ein Leben zu führen, in dessen Mitte die Suche Gottes steht. Wer diesen Ruf vernimmt, kommt um die lectio divina nicht herum.
Nicht nur mit Augen und Verstand
Das reine Lesen – auch, wenn es langsam und aufmerksam angegangen wird – trifft noch nicht die eigentliche Intension der lectio divina. Vielmehr geht es bei der geistlichen Schriftlesung um das Hören. Deswegen lesen die Mönche oft laut oder halblaut, um tatsächlich Gottes Wort mit den Ohren aufzunehmen. Mehr noch: Es gilt, den verborgenen Klängen zu lauschen und dabei den Sinn der göttlichen Schriften zu suchen. Und bei dieser Suche wird uns das eigene Herz dienlicher sein als unser noch so gut geschultes Denkvermögen. Denn Gott – so sind sich die Mystiker aller Zeiten einig – spricht vor allem von Herz zu Herz.
Weniger selbst formen, als geformt zu werden
In ähnlich radikaler Weise muss auch das heutige Selbstverständnis korrigiert werden, bei dem sich der Mensch vordergründig als einer versteht, der am liebsten alles selbst in die Hand nimmt. Die lectio divina verlangt vom Übenden eher die Bereitschaft, sich zurückzunehmen und sich ganz dem Wirken Gottes zu überlassen.
In Stille und Abgeschiedenheit
Die vielleicht größte Herausforderung für den Einsteiger in die andere Art des Bibellesens wird heutzutage meistens die Ungestörtheit sein. Nicht umsonst haben sich viele Gottsucher in einsame Gegenden und hinter Klostermauern zurückgezogen. Wer die lectio divina praktizieren will, wird neue Prioritäten setzen und für geistliche Übungen Zeiten und Orte freilenken müssen. Er wird Geduld mit sich haben müssen, bis es still genug ist, um Gott bei der lectio divina in, zwischen und hinter den Zeilen zu entdecken.
Immer und immer wieder
Mehr noch als in früheren Jahrhunderten ist der moderne Mensch gewohnt, alles möglichst schnell und effizient zu erledigen. Er ist eher geneigt, Texte zu überfliegen, als sie in Mönchsart immer wieder aufs Neue zu lesen und auswendig zu lernen. Die lectio divina bleibt eine lebenslange Aufgabe.